5. Mai 14:13 

 

»Ich suche Sie schon seit einer Ewigkeit«, brummte von Tobler. Winter stand hungrig im sonnendurchfluteten, mit schweren Holzpaneelen getäfelten Büro seines Vorgesetzten und erklärte: »Ich war nur kurz im Mittag.« 

»An der Börse ist das eine Ewigkeit, sein oder nicht sein.«

»Tut mir leid.«

»Sie können nicht einfach abtauchen. Wo waren Sie?«

»Unter Wasser.« 

Von Tobler warf Winter einen skeptischen Blick zu. Die geplatzten Äderchen, die den hohen Blutdruck des Cholerikers und Weinliebhabers verrieten, schwollen an, und Winter fügte hinzu: »Schwimmen. In der Aare.« 

»Um diese Jahreszeit?«

»Das erste Mal in diesem Jahr.«

Der Patron knurrte: »Sport ist Mord.« Von Tobler spielte 

Golf und Tennis. Er hatte neben seiner Villa eigens ein Putting Green und für seine dritte Frau Mari einen privaten Tennisplatz angelegt. Aber Winter hatte gehört, dass er nur ungern gegen sie spielte, da er nicht gerne verlor. Kein Wunder, die sportliche Schwedin sah nur wenig älter aus als Miriam, von Toblers Tochter aus erster Ehe. Winter war die Launen seines Chefs gewohnt und schwieg. 

Von Tobler griff nach einem Blatt Papier, vom Layout her eine E-Mail. »Wir haben wieder einmal eine Leiche.« 

Winter dachte: Im Keller. 

Sein Chef reichte ihm den Ausdruck. »Das BKA hat eine Anfrage geschickt. Irgendein Spinner in Berlin.« 

»Das BKA?«

»Ja, das Bundeskriminalamt.«

Irritiert fragte Winter: »Was wollen sie?«

»Wie immer: Informationen, Informationen.« Von Tobler hob verächtlich die Hände. »Sie kopieren die Amis und wollen den gläsernen Kunden.« Der Alte machte eine Ekelgrimasse, grinste und schüttelte entnervt den Kopf. »Zuerst nehmen sie den kleinen Finger, dann die Hand, und schon ist der ganze Arm weg. Und wegen mickriger dreiundzwanzigtausend Euro machen die ein solches Theater.« 

Die E-Mail war von der Schweizer Partnerbehörde des BKA, dem Bundesamt für Polizei oder kurz: FedPol. Freundliche Floskeln. Winter drehte das Blatt um. Nichts. 

Von Tobler sagte: »Hodel hat die Details.« Hodel war der Chefjurist der Bank. 

»Okay. Ich schaue mir das an.« 

Der Patron dozierte: »Früher hätte ich gesagt: ›Gelacht, gelocht.‹ Und das Ganze im Rundordner abgelegt. Aber heute geht das nicht mehr.« Das Telefon auf dem klobigen Schreibtisch klingelte, und von Tobler entließ Winter mit einer ungeduldigen Bewegung aus dem Büro. »Schlimmer als die verdammte Kavallerie.« Er zeigte auf die E-Mail und befahl: »Schmerzlos entsorgen.« 

Winter nickte und schloss die schallgedämpfte Tür. 

Hodels Büro was gleich nebenan. Auch er hing am Telefon, doch als er Winter im Türrahmen sah, winkte er ihn herein. Der Chefjurist mit den aristokratischen Zügen und der Hakennase machte mit den Fingern einen schnatternden Schnabel nach. Bla, bla, bla. Bei erster Gelegenheit unterbrach er seinen Gesprächspartner und verabschiedete sich mit ausgesuchter Höflichkeit, legte auf und faltete seine feingliederigen Hände. »Winter, schön, dich zu sehen. Was kann ich für dich tun?« 

»Er«, Winter zeigte mit dem Kinn zu von Toblers Büro, »hat mir die Anfrage aus Berlin gegeben.« 

»Ah ja. Klär das bitte ab. Bevor ich die Anfrage beantworte, will ich wissen, wie weiß seine Weste war.« 

Winter zog die Augenbrauen hoch und schwenkte den Ausdruck. »Ich habe nur die Mail hier. Gibt es mehr?« 

Hodel zog die mageren Schultern hoch. »Im Anhang. Unklare Todesursache. Sie haben ihn in einem Loch gefunden.« 

»Einem Loch. Meinst du das metaphorisch oder wie?« 

»Nein, die Berliner Polizei hat ihn vorgestern in einem Schacht beim Tegeler See gefunden.« 

»Und?« 

»Es gibt Kontounterlagen von uns, die offenbar niemand erklären kann.« Und nach einer Pause: »Oder will.« 

»Die dreiundzwanzigtausend Euro.« 

»Genau. Kein Schocker, aber ich will mich nicht auf die Äste hinauslassen, ohne dass du dir das angesehen hast.« 

»Gut, ich kümmere mich darum.« 

»Danke. Vielleicht reicht der kleine Dienstweg.« Hodel nickte Winter zu und zog die Tastatur heran. »Ich schicke dir die Mail.« 

Winter verabschiedete sich und ging nachdenklich die Treppe hinunter. Im Büro weckte er den Computer. Hodels Mail war gerade gekommen. Er öffnete die Anhänge. Während er seinen Lunch spachtelte, studierte er die Unterlagen. 

Ein Berliner Staatsanwalt begründete in einem zweiseitigen, formalen Schreiben mit einem stehenden Bären im Briefkopf das Auskunftsbegehren. Am 3. Mai war der Angestellte der Berliner Wasserbetriebe auf dem Betriebsgelände beim Tegeler See in einem Brunnenschacht tot aufgefunden worden. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse konnte bis jetzt nicht abschließend geklärt werden, ob es sich um einen Unfall, Suizid oder ein Tötungsdelikt handelte. Im Rahmen der laufenden Untersuchung waren unerklärliche Kontounterlagen aufgetaucht, weshalb höflichst um weitere Informationen zum entsprechenden Konto gebeten wurde. 

Ein förmlicher Brief des Staatsanwaltes an das BKA. Das Schreiben des BKA an das FedPol verwies auf einen Rechtshilfevertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen regelte. Der FedPol-Brief mit der Aufforderung, doch bitte umgehend zu folgendem Konto Auskunft zu erteilen, inklusive der entsprechenden Rechtsmittelbelehrung. Das ganze Leiterspiel.

Treppchen rauf, Treppchen runter.

Winter fragte sich, was wo verloren gegangen war.

Das letzte PDF-Dokument zeigte eine schräg eingescannte Kopie eines Kontoauszuges der Bank. Dreiundzwanzigtausendeinundzwanzig Euro. Der letzte Jahresabschluss eines Otto Harnisch, wohnhaft am Hermsdorfer Damm in 13467 Berlin.

Nichts Auffälliges. 

Winter druckte den Kontoauszug zweimal aus und aß nachdenklich sein Mittagessen fertig. Dann ging er zu Leonie hinüber. »Hey, Leonie.« 

Sie drehte sich um. »Winter?« 

Er reichte ihr den Ausdruck. »Kannst du einmal schauen, was du zu Otto Harnisch und Umfeld findest?« 

Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht gestört werden wollte. Der Bildschirm ihres Laptops war im Programmiermodus. Winter fügte an: »Bei Gelegenheit.« 

»Okay.« Leonie wandte sich wieder ihrem Code zu. 

Winter blieb einen Moment stehen. Wenn Leonie im Tunnel programmierte, war es sinnlos, mit ihr ein vernünftiges Gespräch führen zu wollen. 

Nächster Stopp war die Kaffeemaschine, dann Schütz. 

Winter klopfte mit einem Espresso in der Hand an dessen Türrahmen und fragte: »Hast du einen Moment?« 

Der Kundenberater federte mit seinem nicht unbeträchtlichen Gewicht im gepolsterten Bürostuhl zurück. »Für dich? Immer!« 

Stefan Schütz war ein sehr guter Kollege, fast so etwas wie ein Freund von Winter. Jedenfalls gingen Schütz, Leonie und Winter manchmal zusammen eine Pizza essen oder ein Bier trinken. Jetzt erkundigte sich der Familienvater mit einem Grinsen: »Wie war das Schwimmen in unserer schönen Aare?« 

»Kalt.« Winter deutete mit Daumen und Zeigfinger eine Spanne von einigen Zentimetern an. »Du hättest mitkommen sollen. Schließlich bist du besser isoliert.« 

Schütz strich sich über das gestraffte Hemd. »Das ist ein Investment wie jedes andere auch. Altersvorsorge. Man weiß nie, was kommt.« 

»Du rechnest mit einer Hungersnot?« 

»Mindestens mit einer Sintflut. Die Welt ist schließlich gerade wieder einmal dabei, verrückt zu werden.« 

»Wo du recht hast, hast du recht.« Winter reichte ihm den Kontoauszug. »Das BKA will Otto Harnischs Historie mit uns.« 

»Kein Problem.« Schütz klapperte auf der Tastatur herum und zeigte nach einer Weile auf seinen Bildschirm. »Kontoeröffnung vor gut zwei Jahren. In Zürich.« Er blickte auf. »Hottinger hat das damals gemacht.« 

»Kontobewegungen?« 

»Nur zwei. Bei der Eröffnung hat er eintausend Euro in bar einbezahlt. Dann kurz darauf eine einmalige Zahlung von zweiundzwanzigtausend Euro.« 

»Woher kommt das Geld?« 

Schütz tippte herum. »Eine Stiftung in Liechtenstein mit Namen ZKT«, sagte er dann. »Schwein gehabt. Keine Bareinzahlung.« Und nach mehr Tippen: »Als Zahlungsgrund wurde ›Beratungsleistungen‹ angegeben.« 

»Die Deutschen wollen wissen, ob alles sauber ist.«

Mit gespielter Inbrunst sagte Schütz: »Immer!«

Winter schwieg und wartete.

Schütz: »Wir sind im grünen Bereich.« Er zeigte auf den Bildschirm. »Hier, der Kunde hat uns bestätigt, dass das Geld rechtmäßig versteuert wurde.« 

»Selbstdeklaration.« Winter rümpfte die Nase. Lügen konnte jeder. 

»Ja, wenn du mehr wissen willst, musst du die Stiftung fragen.« 

»Das ist wahrscheinlich eine Sackgasse.«

Aber das war nicht das Problem der Bank.

Schütz fragte: »Was hat dieser Otto Harnisch denn angestellt?«

»Er wurde in einem Schacht tot aufgefunden.« 

»Oh.« Betretenes Schweigen. »Er war Brunnenmeister in Berlin.« 

»Beschaffung?«

»Könnte sein.«

»Oder etwas mit Immobilien. Da fließt einiges unter der 

Hand. Und jeder braucht einen Wasseranschluss. Was macht ein Brunnenmeister eigentlich genau?« 

»Keine Ahnung. Ist erst vorhin hereingekommen.« Winter setzte sich auf die Schreibtischkante und deutete auf den Bildschirm. »Was ist das für eine Stiftung?« 

Schütz zuckte die Achseln. »Der Name ›ZKT‹ ist nicht gerade erhellend. Und die Liechtensteiner haben meines Wissens immer noch kein öffentliches Verzeichnis, das seinen Namen verdient.« 

»Was sagt Big Brother Google?«

Der Kundenberater gab »ZKT« in die Google-Suchmaske ein und scrollte herum. Der einzige Link, der einigermaßen Sinn machte, war eine »Zandel & Kogler Technik AG« in Lindau, Österreich, die Präzisionsventile herstellte. 

Winter: »Vielleicht sparen die mit der Stiftung ja Steuern.« 

 

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