28. Dezember 09:34
Winter sah, wie sich die Spur der Snowboarder zu einem Spalt öffnete. Die Oberflächenspannung des Windharstes war gerissen. Die Idioten hatten ein Schneebrett ausgelöst. Der ganze Neuschnee rutschte auf ihn zu. Verflucht. Er stieß sich ab und begann so schnell wie möglich schräg aus dem Hang zu fahren. Schade um den Neuschnee. Winter nahm Fahrt auf. Jede Sekunde war kostbar. Der Schnee zog die Skier in die Tiefe. Jetzt nur nicht stürzen. Sachte lehnte er sich ein wenig zurück. Schatten. Die Berge verdunkelten die Sonne.
Vor ihm säumten riesige Felsen das Schneefeld. Sie würden die Lawine ablenken. Schutz bieten. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Die Druckwelle schob Winter vorwärts, überholte ihn. Die Lawine türmte sich hinter ihm auf. Sie riss Dreck aus dem Erdboden. Eine Lage schob sich über die nächste. Tödliche Tonnen Material. Eine weiße Wand aus Schnee, Eis und Geröll baute sich in seinem Rücken auf. Die Lawine wurde schwerer und schwerer und immer schneller.
Es dröhnte.
Winter hörte nichts, er konzentrierte sich auf seine Balance. Je schneller er wurde, desto schwieriger war es, die Skier auf Kurs zu halten. Der Schnee um ihn herum begann zu rutschen. Die Lawine schob den ganzen Hang vor sich her.
Noch fünfzig Meter bis zum Felsen.
Ein Spinnennetz überzog die dünne Eisschicht, bevor sie zersplitterte. Wie damals die zerschossene Scheibe aus Sicherheitsglas. Nach dem Beschuss war die Frontscheibe der Limousine für einen Moment blind gewesen. Dann sprang sie in tausend Teile.
Fokus.
Die Lawine wirbelte eine Schneewolke hoch, die Winter umhüllte. Alles weiß. Jeden Moment würde er verschüttet werden. Er pumpte Sauerstoff in seine Lunge. Eiskristalle stachen im Hals.
Der Hang wurde flacher und Winter langsamer. Druck in den Ohren. Winter sah nichts mehr, hatte keine Fixpunkte mehr. Obwohl seine Gleichgewichtsorgane auf Hochdruck arbeiteten, schwand seine Balance. Die Zeit blieb für einen Moment stehen. Dann überrollten ihn die wuchtigen Schneemassen wie ein rasender Güterzug. Geröll und Eisbrocken hämmerten auf ihn ein.
Es toste.
Winter überschlug sich. Aus dem Hang gerissene Steine bombardierten seinen Körper, prallten gegen seinen Kopf. Ein stechender Schmerz in der rechten Hand. Das linke Bein wurde verdreht. Die Skier abgerissen. Er sah Licht im Getöse, versuchte, zu schwimmen und an die Oberfläche zu gelangen. Die Hände waren gefangen in den Schlaufen der Skistöcke. Die Lawine zog ihn hinunter. Es wurde düster. Er verlor seine Mütze. Schnee drang in die Ohren. Er schloss Augen und Mund.
Die Schneemasse schichtete sich über ihm auf. Der Druck nahm zu, das Dröhnen wurde mit jeder Lage über ihm dumpfer. Er holte Luft und bekam eine Ladung Schnee in den Mund, verschluckte sich, kotzte reflexartig. Er musste seine Atemwege schützen. Nur keinen Schnee in die Lunge bekommen.
Einen Augenblick lang wollte Winter aufgeben, sich einfach im Gewühl treiben lassen. Aber er wollte nicht ersticken. Er wollte am Leben bleiben. Das Wichtigste zuerst. Luft. Er musste um jeden Preis vor seinem Gesicht einen Hohlraum verteidigen. Zeit gewinnen. Mit den Händen und Armen schützte er die Luftblase vor seinem Kopf.
Ein massiver Eisblock zerdrückte ihn.
Winter schrie auf. Schnee füllte seinen Mund, und er wurde ohnmächtig.
Nichts.
Anne. Seine geliebte Anne. Winter sah ihre verkohlte Leiche. Herausgeschleudert aus dem abgestürzten Helikopter. Sie würden vereint sein. Da schlug Anne die Augen auf. »Tom!« Er erschrak. Anne war tot. Er lebte. – Noch. Sein Atem ging schwer. Es war stockdunkel. Still. Winter hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Er horchte. Nur das pochende Blut in seinen Ohren. Die Lawine. Er war lebendig begraben.
Wenigstens konnte er atmen. Mit der Luft musste er sparsam sein. Er zwang sich, ruhig zu atmen und den Puls zu kontrollieren. Er war müde, und es war schön warm. Die ersten Anzeichen von Erfrieren. Sanft einschlafen war besser als ersticken. Später. Er war eingeschlossen im Schnee, sein ganzer Körper komplett blockiert. Er lag schräg auf dem Rücken. Etwas Schweres drückte auf den Brustkorb. Die Beine konnte er nicht bewegen, sie waren wie in Beton gegossen. Wenigstens spürte er die Zehen, wackelte mit ihnen in den Skischuhen.
Der rechte Arm war gestreckt. Als er ihn bewegte, durchzuckte ihn ein teuflischer Schmerz. Für einen Moment sah er rote Flecken. Winter stöhnte. Er hob den linken Arm. Schnee bröckelte aufs Gesicht. Vor Schreck sog er kalte Luft ein. Nur nicht den Hohlraum vor seinem Gesicht verschütten. Vorsichtig bewegte er die Finger. Den Handschuh hatte er verloren. Die Schlaufe des Skistocks schnitt in den Unterarm. Er konnte die linke Hand vor seinem Gesicht etwas bewegen.
Schnee rieselte.
Er musste so schnell wie möglich hier raus. Situationsanalyse. Er war am Leben und atmete. Die rechte Hand war verletzt, die linke funktionierte. Er trug kein Lawinensuchgerät auf sich. Er hatte keine Ahnung, wie viel Schnee über ihm lag, wie lange die Luft reichen und wann Hilfe kommen würde.
Die Snowboarder hatten am Rande des Hanges angehalten. Vielleicht waren sie mitgerissen worden. Vielleicht hatten sie ihn gesehen und die Rettungsflugwacht angerufen. Die beiden hatten sicher Mobiltelefone dabei, um sich bei ihren Heldentaten zu filmen. Oder waren sie aus Angst einfach davongefahren? Fahrerflucht im Schnee. Unbekanntes, das er nicht beeinflussen konnte. Das Atmen fiel ihm schwer. Der Sauerstoffgehalt nahm ab. Was konnte er beeinflussen? Prioritäten? Luft. Sich befreien. Auf sich aufmerksam machen. Optionen?
Winter kratzte mit den Fingern an der Höhlendecke. Er krallte seine Finger in das kompakte Gemisch aus Schnee, Eis und Dreck. Ein faustgroßer Stein fiel herunter. Die Decke drohte einzustürzen. Winter hielt inne und lauschte. Waren da Schritte zu hören? Nein! Das war nur sein Herzschlag. Er hörte sein eigenes Blut pulsieren. Bald würde es sich aus den peripheren Körperteilen zurückziehen und sich auf die Versorgung der lebenswichtigen Organe konzentrieren.
Vielleicht sollte er einen Winterschlaf machen. Als Kind hatte ihm seine Mutter immer aus dem Buch mit der Bärenfamilie vorgelesen. Die Bären machten auch Winterschlaf. Schlafen. Er schloss die Augen. Der kleine Bär erlebte allerlei Abenteuer. Er lernte klettern und schwimmen. Er freundete sich mit einem schlauen Luchs an. Die Bärenmutter wachte über ihn. Sie warnte ihn immer vor den Indianern, die in Zelten wohnten und mit spitzen Pfeilen jagten.
Der Skistock! Winter schlug die Augen wieder auf. Die Schleife seines Skistocks war immer noch um seinen linken Unterarm gewickelt. Mit Daumen und Zeigefinger grub er den Griff aus, bis er spürte, wo der Stock im Schnee verschwand. Er zeigte nach oben. Winter rüttelte am Stock. Schnee fiel herunter. Oberkante Unterlippe. Wenn die Decke einstürzte, hatte er keine Luft mehr. Er reckte das Kinn. Ganz vorsichtig stieß er den Skistock gegen oben.
Nichts.
Winter schob den Ellbogen unter den Stock und stemmte diesen mit dem Handballen nach oben. Ein Ruck. Da! Eine kleine Lichtsichel! Dann war es wieder dunkel. War das eine Täuschung? Halluzinierte er schon? Mit aller Kraft drückte er den Skistock weiter nach oben. Da war die Sichel wieder. Der Plastikteller an der Spitze des Stocks hatte die Schneedecke durchstoßen. Winter fasste den Griff des Stocks fester und machte rotierende Hebelbewegungen.
Mehr Licht.
Und Luft.
Euphorie durchdrang Winter. Er würde nicht ersticken. Aber er konnte sich nicht selbst befreien. Über ihm lag tonnenweise Schnee. Wenn nicht bald Hilfe kam, würde er erfrieren. Der farblose Plastikteller seines Skistocks war im Lawinenkegel schwer zu entdecken. Er bewegte den Stock auf und ab. Eine winzige Boje im Meer aus Schnee.
Er wartete und lauschte.
Nichts. Er schrie: »Hilfe!«
Winters Lunge schmerzte.
Schnee rieselte ihm ins Gesicht.
Kein Geräusch.
Absolute Stille.
Nichts geschah.
»Hilfeeeee!«
Als Winter einatmete, stürzte die Decke des Hohlraums ein. Das Licht flackerte, und es wurde wieder komplett dunkel. Der Schnee drückte auf die Augenlider und drang in seine Nase. Kalte Lippen. Er hatte nur noch die Luft in seiner Lunge. Drei Minuten. Er konnte sich nicht rühren. Winter wartete auf den Film seines Lebens. Doch er war zu müde fürs Kino. Sein Telefon klingelte. Diesen Anruf konnte er leider nicht annehmen. Mobiltelefone mussten im Kino ausgeschaltet werden. Er schlief ein.