28. Dezember 09:17
Winter atmete die Bergluft tief ein. Die ersten Sonnenstrahlen krochen über den Alpenkamm. Eiskristalle flirrten. Er steckte die Skistöcke in den Schnee, zog die Handschuhe aus und klaubte den Minifeldstecher hervor. Mit klammen Fingern stellte er die Linse scharf. Die Sprengladung war unterwegs. Langsam bewegte sie sich auf das Zielgebiet zu. Die grellgelbe Plastikwurst baumelte hoch über dem Steilhang an einem Stahlseil.
Mit dem Feldstecher folgte Winter der Zündleine. Im gegenüberliegenden Hang hockten hinter einem Felsblock zwei Männer mit Sturmmasken, die Kapuzenjacken hochgeschlagen. Einer der Männer sprach in ein Funkgerät. Der andere holte die Zündleine Meter um Meter ein. Der Mann mit dem Funkgerät streckte Arm und Daumen. Winter hielt den Atem an und fokussierte auf die Sprengladung.
Die klirrende Kälte war vergessen.
Der Sprengstoff fiel in die Tiefe, bohrte sich in den Schnee.
Nichts geschah.
Dann ein dumpfer Knall, eine Schneefontäne.
Das Schneefeld erzitterte. Die Schockwellen verbreiteten sich radial. Der Schnee löste sich, zuerst an einzelnen Stellen, im ganzen Hang, begann zu rutschen, nahm Geschwindigkeit auf, überschlug sich und formte eine tosende Walze.
Der Luftzug des Soges.Mit bloßem Auge beobachtete Winter den Lawinenabgang. Weit unten in der schattigen Fläche kam sie kurz vor den blauen Pfosten zum Stillstand. Die markierte Skipiste für Anfänger war bis zum nächsten großen Schneefall wieder lawinensicher. Eine Wolke Schneestaub stieg auf, glitzerte in der schrägen Morgensonne und verflüchtigte sich.
Für einen Moment studierte Winter den gesprengten Lawinenhang. Per Zufall war er auf die Lawinensprengung gestoßen. Als ehemaliger Einsatzleiter der Polizeisondereinheit Enzian und heute als Sicherheitschef einer kleinen Privatbank interessierte er sich beruflich für Sprengungen. Mit einer der ersten Kabinen war er in die Höhe gefahren, um abseits der Piste Schwünge in den jungfräulichen Tiefschnee zu ziehen.
Er stopfte den Feldstecher in die Jacke. Zuerst musste er seine Muskeln auf Betriebstemperatur bringen. Er kreiste Knie und Hüften, dann schüttelte er die Schultern aus und lockerte die Handgelenke. Ein klarer, dunkelblauer, vom nächtlichen Schneefall gereinigter Himmel spannte sich über die Alpen. Auf der einen Seite des Grates streckte der mächtige, frisch überzuckerte Aletschgletscher seine Zunge ins Tal. Auf der anderen Seite wucherten Chalets, Apartmenthäuser und Hotels.
Die frische Luft und die Sonne taten gut. Angesichts der Bergmassive fühlte er sich klein und auf eine ursprüngliche Art geborgen. Hier oben weitete sich die Perspektive. In den Bergen schmolzen die täglichen Probleme. Entfernt ratterte die Bergstation. Die meisten Touristen waren noch im Bett. Er war alleine. Einige Leute sagten, Einsamkeit müsse man aushalten. Er liebte sie. Vor allem in der Natur. Keine jammernden Kollegen, kein Chef.
Winter dehnte die Beinmuskeln, dann stampfte er Wärme in seine Gelenke. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Das hatte Anne immer gesagt, wenn sie gemeinsam einen Einsatz geplant hatten. Sie war die Einzige, die er vermisste. Ein Anflug von Melancholie erfasste ihn. Es wäre schön, wenn sie da wäre. Der Helikopterabsturz, bei dem seine geliebte Anne ums Leben gekommen war, lag nun ein halbes Jahr zurück. Er verdrängte Anne. Es gab Dinge, die man nicht ändern konnte. Er hatte sich vorgenommen, vorwärtszuschauen. Er wollte als Erster eine Spur in den Tiefschnee legen. Rasch klopfte er die Skischuhe aneinander. Die Gelenke waren locker.
Ein letzter Blick auf das grandiose Panorama. Winter stieß mit kräftigen Stockstößen ab. Nach einigen Schlittschuhschritten ging er in die Hocke und glitt stromlinienförmig durch die lang gezogenen Kurven. Die Eiskristalle piksten seine Wangen. Mit tiefem Schwerpunkt drückte er die Bodenwellen und ließ es bis zu seinem Lieblingshang laufen.
Er stoppte auf der eisigen Wegkante. Die Skispitzen ragten ins Tal. Um loszufahren, musste er sich nur ein wenig vorbeugen. Steil und tief verschneit lag das Schneefeld vor ihm, oben in der Sonne, unten noch im Schatten. Dort mündete es wieder in die markierte Piste, die zur Talstation führte. In den nächsten Stunden würde er eine Slalomspur nach der anderen in den Tiefschnee legen. Zöpfe flechten.
Mit dem Skistock schnitt er ein Schneeprofil auf und untersuchte den Aufbau der Schichten. Er hasste Überraschungen. Zuoberst eine harte, nur ein paar Millimeter dünne Schicht Windharst. In der Nacht hatte es aufgehört zu schneien. Der eisige Wind hatte die oberste Schneeschicht gefroren und abgeschmirgelt. Darunter feinster Pulverschnee, leicht und feinkörnig wie zerriebenes Styropor. Zuunterst eine stabile Unterlage aus mehreren gepressten Lagen.
Perfekte Bedingungen.
Winter stürzte sich in die Tiefe und versank bis zur Hüfte im Tiefschnee. Nach zwei, drei Schwüngen fand er seinen Rhythmus. Tiefschneefahren brauchte Geduld und Gefühl. Die Skispitzen schnitten sich durch den Windharst. Fließend reihte er Bogen an Bogen und tanzte durch den stiebenden Schnee.
Er stieß einen Freudenschrei aus.
Nach etwa zwei Dritteln des Hanges hielt Winter mit einer Pirouette an und schaute den Hang hoch. Er war zufrieden mit seiner Spur. Regelmäßig und rund. Bei der nächsten Abfahrt würde er die Kurven etwas enger nehmen. Aber insgesamt nicht schlecht.
Jemand johlte. Ein Echo. Überlagert von einem zweiten, grölenden Schrei. Zwei Snowboarder waren schräg in den Hang gesprungen und
kreuzten Winters Spur. Seine Postkartenspur zerstört. Winter wollte sich den Tag nicht von zwei Halbwüchsigen verderben lassen. Schon gar nicht von zwei Schnöseln, deren Selbstwert an der Marke ihrer Unterhosen hing. Wahrscheinlich eiferten sie einem schlaksigen Profi mit Sponsoren, Sportwagen und YouTube-Filmchen nach.
Die Jungs waren schnell, aber vom vielen Schnee überfordert. Sie versuchten vergeblich, im Tiefschnee zu drehen. Trotz des Auftriebs ihrer Bretter schafften sie keine Kurven, sondern schlitterten stotternd quer über den Hang, bis sie die Steigung auf der Gegenseite bremste.
Sie hielten an.
High-five.
»Jo!« Modernes Jodeln.
Es knirschte.