24. Juli 20:40

 

Winter lag bewegungslos im dreckigen Wasser. Ein dünner Fettfilm bedeckte dessen Oberfläche. Darauf klebte eine Mücke und kämpfte zuckend gegen das Ertrinken. Ein hoffnungsloser Todeskampf.

           

Das Wasser war in Winters Ohren eingedrungen und hatte sich durch die Hörgänge einen Weg zum Trommelfell gebahnt. Die Augen geschlossen. Kopf und Genick waren gegen hinten gebeugt, der Adamsapfel und die verletzte Hand ragten aus dem lauwarmen Wasser.

           

 Die Hand war zerkratzt. Unter den Fingernägeln klebte Dreck. Ein Gemisch aus Erde, Lehm und organischen Resten. Einer der Fingernägel war gespalten.

           

Der Puls war schwach. Und ganz langsam.

Die Mücke bewegte sich nicht mehr.

           

Nach einem Tag harter körperlicher Arbeit entspannte er sich mit schmerzendem Rücken in seiner Badewanne. Er wollte für diesen Abend mit Anne in Bestform sein.

           

Jetzt schwelgte er genüsslich in den Erinnerungen an ihre erste Verabredung bei ihm. Wie ihm an jenem lauen Abend im Frühsommer bei den drei Begrüssungsküsschen der Duft des Issey Miyake Parfums in die Nase gestiegen war. Wie sie mit ihrem strahlenden Lächeln und einem Glas prickelndem Weisswein auf dem alten Holzbalkon gestanden hatten.

           

Mit einer entschuldigenden Geste hatte er ihr die halbfertige Terrasse in seinen wuchernden Garten gezeigt, in dem ausser wilden Zucchetti und Gurken noch nichts Essbares wuchs. Er konnte sich noch genau an die Energie erinnern, die durch seinen Körper geflossen war, als sie lachend ihre Hand auf seinen Unterarm gelegt hatte. Sie hatte seinen Dschungel »romantisch« gefunden und sich schon auf die frischen Him- und Brombeeren gefreut.

           

Gemeinsam hatten sie es danach mit abwechselndem Pusten geschafft, im Steingrill ein Feuer zu entfachen. Sie hatte ihn dabei geneckt, und er war vor lauter Sauerstoffmangel beinahe in Ohnmacht gefallen. Als sie endlich die Steaks auf die Glut legten, war Anne russverschmiert gewesen. Unter ihrer Brust zog sich ein schwarzer Abdruck der Grillkante quer über ihr T-Shirt. Sein Küchenhandtuch hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht. Seither konnte Winter Annes Bauchnabel nicht mehr vergessen.

           

Die Erinnerungen an den wunderbaren Abend verbreiteten ein wohliges Gefühl. Die gemächlich gleitenden Gedanken waren ein gutes Zeichen. Die körperliche Arbeit an der Terrasse und das Bad taten ihm gut.

           

Nach dem Essen waren Anne und er lange sitzen geblieben, und hatten die Flasche Rioja ausgetrunken. Es war langsam dunkel geworden und Winter hatte die Kerzen in den Windlichtern angezündet. Die Grillen hatten gezirpt. Später hatte er Kaffee gekocht und die Quarktorte seiner Lieblingsbäckerei aus dem Kühlschrank geholt.

           

Anne hatte Winter von ihrem Traum erzählt, auf den Galapagos Echsen zu beobachten. Winter hatte von den Naturparks in Kanada mit den riesigen, unberührten Wäldern geschwärmt. Bis spät in die Nacht hinein hatten sie gelacht und über alles Mögliche geredet.

           

Nur nicht über die Privatbank. Irgendwann hatten er und seine Stellvertreterin ein stillschweigendes Übereinkommen getroffen, in seinem Haus nicht über ihre Arbeit zu sprechen. Vorgesetzter und Mitarbeiterin. Das war eine feine Linie. Business Lunch in der Pizzeria wurde zweifellos toleriert. Formelles Nachtessen mit Kunden auch. Aber ein intimes Tête-à-Tête war ein Grenzfall. Nach langem Zögern und Ringen hatten seine Gefühle die Vernunft überstimmt.

           

Langsam hob Winter den Kopf und tauchte auf. Vorsichtig griff er mit der rechten Hand nach dem Bier neben der Badewanne. Die kühle Flasche milderte das Brennen der aufgestochenen Schwielen. Er fragte sich, wie seine geschundenen Hände beim Schiessen seine Zielsicherheit beeinflussten. Glücklicherweise gab es nur noch wenig bewaffnete Banküberfälle. Die Überfälle fanden heute in Hinterzimmern statt. Die Täter trugen statt Masken Nadelstreifen. Statt Löcher in Tresore zu sprengen, knackten sie Computer.

           

Winter leerte sein Bier in einem Zug, stieg aus der Badewanne und begann sich zu rasieren. Bevor er die Klinge auf die Stoppeln ansetzte, prüfte er sein Gesicht im Spiegel. Die Linien, die sich dort abzuzeichnen begannen, störten ihn nicht. Vielleicht würde Anne ihm heute nicht nur einen wunderbar langen Abschiedskuss geben, sondern die ganze Nacht bleiben.

           

Er hatte Anne an einem Judo-Wettkampf kennengelernt. Er war in den Viertelfinals ausgeschieden. Anne hatte in ihrer Kategorie gewonnen. Er hatte ihr verschwitzt zum Sieg gratuliert und sie zum Essen eingeladen. Sie hatte abgelehnt, aber als sie auf seiner Visitenkarte gesehen hatte, dass er bei einer Privatbank arbeitete, gefragt: »Stellt ihr auch Juristen ein?«

           

»Selbstverständlich. Die Verträge versteht sonst keiner, wobei ich nicht sicher bin, was zuerst war: Die Juristen oder die Verträge.«

Sie hatte gelächelt, den Kopf ein wenig schräg gelegt und geschwiegen. Da hatte er gewusst, dass sie nicht nur eine gute Judokämpferin war, sondern auch gut im Verhandeln.

»Schick mir deine Unterlagen und ich frage den Chefjuristen.«

Zwei Wochen später hatte es mit der Stelle als Juristin nicht geklappt, dafür mit einem Lunch in einer Brasserie. Damals hatte er Anne das erste Mal in einem ihrer eleganten Hosenanzüge gesehen. Anne hatte, wie er, einmal Jura studiert. Nach dem Studium hatte sie in einer Advokatur gearbeitet, deren Name so lang war, dass Winter ihn sich nicht hatte merken können.

         

Doch Winter hatte in ihrem Lebenslauf gesehen, dass sie vor ihrem Studium bei der Polizei gewesen war, während zweier Jahre als Streifenpolizistin gearbeitet und parallel dazu die Matura nachgeholt hatte. Und so kam es, dass sie zu seiner rechten Hand wurde. Obwohl sie sich erst ein halbes Jahr kannten, vertrauten sie sich blind.

 

Als er barfuss und nur mit dem Badetuch um die Hüften auf den Balkon trat, war die Temperatur noch immer angenehm. Die Sonne stand nur noch knapp über dem Horizont. Das verwitterte Holz hatte die Wärme des Tages gespeichert. Die Berge in der Ferne waren gut sichtbar. Ein gutes Zeichen für das morgige Wetter.

           

Winter ging die knarrende Aussentreppe hinunter und holte im kühlen Steinkeller eine Flasche Rioja.

           

Auf dem Rückweg hielt er neben seinem provisorischen Granitlager inne. Unter der Treppe standen noch drei Türme aus schweren Granitplatten. Eigentlich hatte er vorgehabt, Anne heute mit der fertigen Terrasse zu beeindrucken. Er hatte den Tag frei genommen und das Terrain hinter der neuen Natursteinmauer aufgeschüttet. Doch er hatte den Aufwand unterschätzt.

           

Er kalkulierte die verbleibende Arbeit. Er würde noch einen weiteren Tag brauchen, bis alle Granitplatten verlegt waren. Dann konnte er im Liegestuhl die Sonne und die Sicht auf die Alpen geniessen. Und wenn sein Glück anhielt, würden sie bald zu zweit hier sitzen. Anne hatte das kleine Bauernhaus jedenfalls gefallen.

           

Das alte Holzhaus beim Eichenhubel, einem abgeschiedenen Weiler bei Bern, war ein guter Kauf gewesen. Am Anfang war das Haus eine chaotische Baustelle gewesen. Jetzt funktionierten Wasser, Heizung und Strom.

           

Die restlichen Renovationen würde er schrittweise machen. Wenn er Zeit hatte. Die Arbeit mit den Händen war ein guter Ausgleich. Da sah man sofort, was man machte. Vielleicht half ihm Anne beim Streichen der Fensterläden. Jedenfalls hatte Winter das Gefühl, die anfängliche Unordnung gezähmt zu haben.

           

Die Fähigkeit sich in einem Chaos sofort zurechtzufinden und entschlossen zu handeln, war auch im Geschäft mit der Sicherheit entscheidend. Wer sich nicht den schlimmstmöglichen Fall vorstellen konnte, war nicht paranoid genug, um in diesem Geschäft zu überleben.

           

Gedankenverloren strich er mit der Handfläche über die rauen Kanten des Granits. Sie schnitten in seine Finger. Für einen Augenblick tauchten aus der Vergangenheit die toten Augen wieder auf.

Winter dachte: Heute nicht!

Er schüttelte den Kopf und stieg langsam die Aussentreppe hoch.

Mittlerweile hatte sich Tiger auf der antiken Holzbank breit gemacht. Der Kater schnurrte behaglich, als ihn Winter am Hals kraulte. Eine Katze müsste man sein. Schlafen so viel das Herz begehrt, niemandem Rechenschaft schuldig sein und täglich einen gefüllten Napf. Nur ab und zu ein paar Mäuse jagen.

 

Winter ging in die Küche und stellte die Weinflasche auf die Ablage. Dabei warf er einen Blick auf sein Mobiltelefon. Ein verpasster Anruf. Wahrscheinlich hatte er das Klingeln in der Badewanne überhört.

Es war Anne.

 

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